M. K. Sarnecki: Doppelte Ungleichzeitigkeit

Cover
Titel
Doppelte Ungleichzeitigkeit. Die C.V.-Zeitung von 1925 bis 1933 – Zeitzeugnis eines Pionierprojekts postkolonialer Akkulturation


Autor(en)
Sarnecki, Miriam K.
Erschienen
Giessen 2018: Psychosozial-Verlag
Anzahl Seiten
298 S.
von
Yvonne Weissberg

Miriam K. Sarnecki untersucht in ihrer Dissertation, die sie im kulturwissenschaftlich angelegten Fach Jüdische Studien an der Universität Basel verteidigt hat, das Vereinsorgan des 1893 gegründeten Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.), das als politische Wochenzeitung mit der höchsten Auflage innerhalb der deutsch-jüdischen Presse eine breite Leserschaft erreichte. Die Blätter für Deutschtum und Judentum, wie sich die C.V.-Zeitung selbst bezeichnet, erschienen von 1922 bis zum Verbot aller jüdischen Zeitungen in Deutschland nach dem Novemberpogrom 1938. Sarnecki konzentriert sich auf die Jahre 1925 bis 1933, also eine Phase der zunehmenden politischen Destabilisierung (S. 35).

Doppelte Ungleichzeitigkeit – was meint die Autorin mit diesem Haupttitel? Der Centralverein hatte sich Ende des 19. Jahrhundert als Verein zur Abwehr des immer aggressiver auftretenden Antisemitismus gegründet und zog vor allem Angehörige der Mittelschicht und des Bildungsbürgertums an. In der Folgezeit versuchte er die Gradwanderung zwischen einer Rückbesinnung auf die eigene jüdische Identität und der Integration in die deutsch-christliche Mehrheitsgesellschaft. Er habe, so Sarnecki, «ein an der Aufklärung orientiertes Konzept deutsch-jüdischer Subkultur» entwickelt (S. 229). Damit habe er sich auf der einen Seite an der Aufklärung orientiert, also dem philosophischen Gedankengut, das die vorangegangenen zwei Jahrhunderte dominiert hatte und das die Emanzipation der deutschen Juden überhaupt erst möglich gemacht hatte, das aber nun mit der aufkommenden völkischen Bewegung in immer breiter werdenden Kreisen als nicht mehr zeitgemäss betrachtet wurde. Auf der anderen Seite habe er ein Konzept entworfen, das seiner Zeit weit voraus gewesen sei und «in der heutigen internationalen Akkulturationsdebatte als zukunftsweisend erkannt» werde (S. 243). Denn der Centralverein habe ein Akkulturationsprojekt entwickelt, das zwar eine Integration in die Mehrheitsgesellschaft vorsah, aber «bei gleichzeitiger Bewahrung authentisch eigener subkultureller Merkmale» (S. 11). Dieser doppelte zeitliche Anachronismus prägte also das von der Autorin so genannte Pionierprojekt des Centralvereins, das von ihr überzeugend dargestellt wird.

In ihrem programmatischen Untertitel bringt Sarnecki zusätzlich den Begriff postkolonial ins Spiel. Sie erläutert im Vorwort, warum sie den Begriff und das dahinterstehende Konzept für passend halte, obwohl die Situation der Juden in Deutschland nicht im eigentlichen Sinne als die einer kolonialisierten Ethnie verstanden werden könne. Die Autorin meint, dass der Centralverein akkulturative Visionen vertreten habe, die die Überlegenheitsansprüche und das chauvinistische Denken der deutschen Mehrheitsgesellschaft hätten überwinden wollen (S. 7). Hierarchie- und Herrschaftsvorstellungen aus dem Kaiserreich seien vom Centralverein grundsätzlich infrage gestellt worden (S. 8). Diese Behauptung erscheint mir als nicht haltbar und wird auch von der Autorin durchaus selbst problematisiert. Im Kapitel Gesellschafts- und indirekte Kolonialismuskritik thematisiert sie nämlich die Abgrenzung vieler bürgerlich-liberaler deutscher Juden von der eingewanderten ostjüdischen Bevölkerung in Deutschland, auch wenn sie relativierend ihre ablehnende und vorurteilsbeladene Haltung als hilflosen Versuch einer Minderheit betrachtet, «unter Preisgabe ethischer Grundsätze den eigenen gesellschaftlichen Status und die fragile eigene Identität zu schützen» (S. 104). In einem späteren Kapitel Fremd und vertraut zugleich: das Ostjudentum sieht Sarnecki die Ambivalenz des C.V. gegenüber der ostjüdischen Bevölkerung: Auf der einen Seite Faszination, Verklärung, Idealisierung und eine diffuse Sehnsucht, auf der anderen Seite aber eine deutliche Abgrenzung gegenüber den eher den unteren Schichten angehörenden Ostjuden, die äusserlich auffielen und weder sozial noch sprachlich und kulturell integriert waren (S. 139 f.). Ambivalenz bezeichnet das Verhältnis des C.V. zum Ostjudentum in Deutschland meines Erachtens treffend; eben darum hätte die Autorin auf den Begriff postkolonial an so exponierter Stelle wie dem Untertitel verzichten sollen.

Miriam K. Sarnecki, die Theologie, Judaistik und psychotherapeutische Psychologie studiert hat und seit 2015 in Zürich als Psychotherapeutin arbeitet, versteht ihre Arbeit nicht als eine im engeren Sinne historische, sondern als eine interdisziplinäre. Besonderen Wert legt sie auf eine hohe Dichte an Zitaten, um den Zeitgeist wiederzugeben (S. 35). Dies gelingt ihr zweifelsohne vor allem dadurch, dass sie häufig länger (bis zu zwei Druckseiten) und ungekürzt zitiert, so dass wir als Leser*innen einen lebendigen Eindruck von der Sprech- und Denkweise der einzelnen Autoren und Autorinnen bekommen. So ist es interessant zu lesen, in welchem Spannungsfeld sich der C.V. zwischen einer klaren Ablehnung des politischen Zionismus und der Verklärung Palästinas als Ort religiöser Sehnsucht bewegt (S. 165 f.). Gerade Zitate spiegeln auch anschaulich die von der Autorin so bezeichneten «Anpassungstendenzen an den neuromantischen Zeitgeist» (S. 241 sowie das Kapitel Umgang mit Rassentheorien, S. 91–98).

Sarnecki lässt in den Zitaten nicht nur männliche Autoren der C.V.-Zeitung zu Wort kommen, sondern auch Protagonistinnen der jüdischen Frauenbewegung, wie Eva Gabriele Reichmann-Jungmann und Paula Ollendorff. Leider zeichnet die Autorin aber in ihrem Kapitel Verhältnis zu anderen jüdischen Gemeinschaften in Deutschland die vielfältigen Beziehungen des C.V. zum Jüdischen Frauenbund, der zweitgrössten jüdischen Institution in Deutschland, nicht nach. Dies hätte die Frage nach der Überwindung von Machtverhältnissen und Chauvinismus nochmals neu und anders gestellt.

Zitierweise:
Weissberg, Yvonne: Rezension zu: Sarnecki, Miriam K.: Doppelte Ungleichzeitigkeit. Die C.V.-Zeitung von 1925 bis 1933 – Zeitzeugnis eines Pionierprojekts postkolonialer Akkulturation, Giessen 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (2), 2020, S. 334-336. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00063>.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit